Marie Juchacz, Lore Agnes, Marie Müller – Pionierinnen der deutschen Demokratie
Vortrag von Diana Finkele
Seit der Französischen Revolution von 1789 war der demokratische Gedanke der Gleichheit in der Welt. Überall in Europa mussten die Frauen in der Folge, ihre Gleichberechtigung hart erkämpfen. Im 19. Jahrhundert konnten sie in der Landwirtschaft arbeiten, im Familienbetrieb mithelfen, sich verdingen als Dienstmädchen, Fabrikarbeiterin, Tagelöhnerin oder sie konnten Handarbeiten in Heimarbeit ausführen. Der einzige qualifizierte Beruf um 1900 war der der Erzieherin, doch eine Heirat bedeutete das Ende der Berufstätigkeit.
Das Frauenbild der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ließ öffentlich-politisches Wirken noch lange nicht zu. Das „schwächere Geschlecht“ blieb auf Aktivitäten im Haus beschränkt: für die Familie, den Ehemann, die Kinder. Daran änderte auch die Revolution von 1848/49 wenig. „Wo sie das Volk meinen, zählen die Frauen nicht mit“, kritisierte Louise Otto-Peters, eine Vorreiterin der bürgerlichen Frauenbewegung die frühen Demokraten. Von 1850–1908 duldete das preußische Vereinsgesetz keine Frauen in Vereinen und Parteien.
Mehr Präsenz in der Öffentlichkeit brachten Reformkleider & Hosenröcke in der Mode, Fahrräder & Tennisspiele im Sport.
Kladderadatsch 19. Januar 1919
Grafschafter Museum im Moerser Schloss
Ohne großes Echo forderte die Schriftstellerin Hedwig Dohm 1873 als erste Frau auf Reichsebene das Stimmrecht für Frauen. Lange blieb es den Frauen der kommunistischen und sozialdemokratischen Parteien vorbehalten, das Frauenwahlrecht zu fordern. „Können wir nicht wählen, so können wir doch wühlen“, lautete in den 1870er Jahren ihre Losung. Die gemäßigten konservativ-kirchlich orientierten Frauenvereine sahen sich eher als Gehilfinnen der Männer.
Mit zeitgenössischen Fotos, Zeitungsausschnitten, Plakaten machte die Leiterin des Grafschafter Museums im Moerser Schloss, Diana Finkele, die Frauen- und Demokratiebewegung lebendig mit vielen Beispielen vom Rheinland und Niederrhein, seit 1815 preußische Provinz! 1910 wurde als erste Frau in Preußen und Deutschland Marie Gräfin von Linden an der Bonner Universität Professorin. Lehren durfte sie nicht, aber sie forschte und leitete Institute bis 1933.
Der Erste Weltkrieg änderte viel. Die Frauen wurden für die fehlenden Männer in der Arbeitswelt gebraucht, viele caritative Aufgaben für die verletzten Soldaten und vaterlosen Familien waren zu bewältigen. Durch die Novemberrevolution von 1918 wurde endlich das aktive und passive Wahlrecht für Frauen erreicht und durch ihre Überzahl in der Gesellschaft wurden sie von allen Parteien umworben.
Endlich: Am 19.1.1919 „Damenwahl!“ 80% Wahlbeteiligung, viele konservative Frauen wählten männliche Abgeordnete, 423 Abgeordnete, davon 37 Frauen zogen in den Weimarer Reichstag ein, darunter zwei der 3 Pionierinnen. Alle drei hatten sich in der SPD politisiert, nach harten Erfahrungen als Dienstmädchen, und bis 1933 ihre späteren Mandate für die SPD wahrgenommen.
Lore Agnes (1876 Bochum – 1953 Köln) war in Düsseldorf beteiligt an der Gründung des Verbandes der Hausangestellten und wurde erfolgreiche Agitatorin, die von Ort zu Ort zog, um die Frauen auf ihre Rechte aufmerksam zu machen. Als Pazifistin 1917 inhaftiert, schloss sie sich danach der USPD an. Im Weimarer Reichstag forderte sie 1919 den Ausbau der Jugendfürsorge. Sie war an der Gründung der Arbeiterwohlfahrt in Berlin beteiligt, in Düsseldorf geht die AWO auch auf sie zurück. Bis 1933 setzte sie sich vor allem für die Sozial- und Frauenpolitik ein. 1933, 1934, 1944 monatelange Verhaftungen, immer wurde sie erkrankt entlassen. Nach dem Krieg beteiligte Lore Agnes sich in Düsseldorf am Wiederaufbau der AWO und der örtlichen SPD. Bis zu ihrem Tod eine aktive Frauenrechtlerin, starb sie 1953 während einer Frauenkonferenz der SPD in Köln.
Marie Müller (1881 Croischwitz – 1972 Krefeld) wurde 1925 die erste weibliche Abgeordnete für die SPD im Moerser Kreistag als Nachfolgerin für einen verstorbenen Abgeordneten. 1921 waren die männlichen Abgeordneten dort noch unter sich geblieben.
Als ledige Mutter hatte Marie Müller in Niederschlesien als Schneiderin gearbeitet, wenig später den Bergmann Fritz Müller geheiratet. 1912 kam die Familie nach Kamp-Lintfort. Seit 1919 saß sie für die SPD im Lintforter Gemeinderat, war Schöffin beim Amtsgericht in Rheinberg. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten endete 1933 ihre Abgeordnetentätigkeit wegen des Parteiverbots.
Allein unter Männern: Marie Müller mit den Mitgliedern des Moerser Kreistages
Foto 1932; NS- Dokumentationsstelle, Stadtarchiv Moers
Die engagierte zierliche Frau war Mitbegründerin der AWO Lintfort und zählte zum Umfeld des Widerstandskämpfers Hermann Runge. In diesem Zusammenhang wurde sie nach dem 20.7.1944 verhaftet, kam aber nach 2 Wochen wieder frei. Nach Kriegsende trat Marie Müller erneut der SPD bei. 90-jährig verfasste sie in Krefeld, in der Familie ihrer Tochter, ihre Biografie.
Marie Juchacz (1879 Landsberg/Warthe – 1956 Düsseldorf) kannte wirtschaftliche Not als Dienstmädchen, Fabrikarbeiterin, Krankenwärterin, Schneiderin. Von ihrem ersten Arbeitgeber, einem Schneidermeister, ließ sie sich 1906, nach 3 Jahren Ehe scheiden. Mit ihren beiden Kindern und der geliebten Schwester Elisabeth ging sie nach Berlin, wo beide Frauen als Schneiderinnen gemeinsam ihre Kinder erzogen und sich daneben im Frauenarbeiterverein der SPD engagierten. Bald waren beide gefragte Rednerinnen.
Seit 1917 arbeitete Marie Juchacz hauptberuflich als Frauensekretärin im SPD-Vorstand, organisierte Nähstuben und Suppenküchen. Als nach dem Krieg die Frauen wieder aus den Wohlfahrtsverbänden gedrängt wurden, gründete sie 1919 mit der Arbeiterwohlfahrt eine SPD-eigene Wohlfahrtsorganisation, die unter ihrer Leitung und unter engagierter Mithilfe überall erfolgreich in Deutschland wurde. Als erste Frau ergriff sie in der Weimarer Nationalversammlung das Wort, forderte Freiheit und Gleichberechtigung der Frauen, erklärte die Sozialpolitik zur Frauensache. Sie trat für die Rechte der Mütter unehelicher Kinder ein und für die Reform des Paragrafen 218 (1925).
Am 28.2.1932 hat Marie Juchacz als Abgeordnete der SPD ein letztes Mal in der Debatte um die Reichspräsidentenwahl gesprochen: „Die Frauen … wollen keinen Bürgerkrieg, die Frauen wollen keinen Völkerkrieg, die Frauen wollen keine Verschärfung der Wirtschaftsnot durch innen- und außenpolitische Abenteuer … Es ist genug des Elends! Es ist genug des Bluts! … Die Frauen müssen bei dieser Wahl, die für das Schicksal des deutschen Volkes entscheidend sein kann, auf viele Jahre hinaus, den Kampf annehmen, für Frieden und Freiheit, für Frauenrechte und Frauenwürde, gegen den Todfeind, den Faschismus …“ Mit diesen mutigen Worten endete unser Vortrag. Sie sind wieder von erschreckender Aktualität.
1933 musste Juchacz vor den Nazis fliehen, über das Saarland nach Frankreich, dann von Marseille über Martinique in die USA. Noch im Exil organisierte sie Mittagstische für EmigrantInnen, in New York die Arbeiterwohlfahrt USA. Seit 1949 zurück in Deutschland, begleitete Marie Juchacz als Ehrenpräsidentin den Wiederaufbau der AWO, ihr Herzensanliegen.
Edda Glinka, Gruppe Moers